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Soziale Konstruktion

Dienstag, August 1st, 2006

Als eines der Schlüsselkonzepte der Soziologie hat mich das Konzept der sozial konstruierten Wirklichkeit zu Beginn meines Studiums am meisten fasziniert, umgehauen und angeregt. Zeitweise war ich so davon eingenommen, dass meine Freunde nur noch genervt die Augen verdrehten, sollte ich mal wieder – egal worum es gerade ging – das Gespräch auf die Sozialität der meisten Dinge brachte. Angefangen bei dem zugeschriebenem Wert des Geldes (oder dem was wir für Geld halten) über den Zwang einen Beruf (oder job) zu haben, die Zweigeschlechtlichkeit unserer Gesellschaft, die Bedeutung von Mutter und Vater – sowie unsere Emanzipation von diesen wichtigen Menschen, die Bedeutung des täglichen Kaffees und unseren Zwang am Wochenende „richtig Spass“ zu haben.

Der größte Fehler dabei war wohl soziale Konstruktion mit Beliebigkeit gleichzusetzen. Und trotzdem bin ich heute der Meinung, dass dieser – quasi erste – Schritt notwendig ist, um die so umfassende Möglichkeit des Menschen zur Gestaltung seiner Umwelt in seiner Grösse zu erahnen (vielleicht auch zu verstehen). Dieses Gleichsetzen und beliebig erscheinen lassen provoziert natürlich jeden im „normalen“ Leben stehenden Menschen. Beispiel Geschlecht: „Natürlich gibt es Mann und Frau, und ganz ohne Grund wird die Natur diese Unterscheidung auch nicht eingerichtet haben.“ oder Schlimmer: „Die Natur hat es so eingerichtet, dass die Frauen die Kinder bekommen und die Männer die Familie ernähren“ – ich habe den letzten Satz tatsächlich so zu hören bekommen, und dachte ich bin im falschen Jahrhundert.
Wenn man jetzt also hingeht und sagt „Moment, das ist doch nur gemacht – es könnte auch drei oder vier Geschlechter geben (oder gar keine) und was ist eigentlich das exakte Bestimmungsmerkmal für Geschlecht? – Wir könnten genauso gut die Form des Ohrläppchens als Kriterium heranziehen um einen Menschen dieser oder jener Katergorie von geschlecht zuzuordnen.“ steht das Gegenüber natürlich in der Ecke und kann nur mittels totaler Abwehr und/oder Fluchtreaktionen heraus.
Soziale Konstruktion heißt natürlich nicht Beliebigkeit, sondern nur, dass es auch anders sein könnte. Selbst das ist doch revolutionär genug?! und für die meisten immer noch viel zu stark. Mir gibt das Hoffnung und ein wohliges Schütteln, wenn es mir in meinem Alltag an Stellen aufgeht, die ich bis dato für selbstverständlich hingenommen habe. Unser Alltag ist von Beispielen: die Tastatur auf der ich gerade schreibe mit ihrer legendären „QWERTZ„-Anordnung. Das Tastaturdesign wurde im 19.Jahrhundert entwickelt, dabei standen ganz andere Anforderungen im Vordergrund als uns heute wichtig wären. Zum Beispiel hat der Entwickler Christopher Latham Sholes sicherstellen wollen, dass sich (für die englische Sprache) möglichst selten die Typenhebel der Schreibmaschine in die Quere kommen und sich verhacken. Entsprechend lassen sich neben einer – für Schriftanfänger sehr offensichtlichen – alphabetischen Anordnung auch unter Ergonomiegesichtspunkten „bessere“ Designs vorstellen. Trotzdem hat sich die alte Tastatur sehr lange gehalten, und wird wohl auch noch einige Jahre (bis zur Abkehr von der klassischen Fingereingabe) als Standard erhalten. Die Techniksoziologen sprechen übrigens vom „Momentum“ einer Technologie. In dem wir uns dieser (hier noch recht einfachen) Beispiele bewusst werden, bekommen wir nicht nur eine erstklassige Chance zum staunen – ein Wert an sich wie ich finde – sondern gehen auch den ersten Schritt einer Veränderung, vielleicht sogar Berreicherung unseres Lebens. Warum nicht mal eine andere Tastatur ausprobieren, und vom Sehnenscheidenentzündungsgeplagten Suchfinger-Schreiber zum glücklichen , gesunden 8-10 Fingerschreiber avancieren. Mir fehlt dazu übrigens gerade die Kraft.

Was ich wohl eigentlich mit diesem Post sagen will ist:

  • geht raus und staunt über diese Welt
  • eine andere Welt ist möglich
  • seit nicht böse auf den Soziologiestudenten, der immer etwas hochnäsig daher zu kommen scheint

Fortsetzung folgt.